„Das
Evangelium wird doch in unserer heutigen Zeit mehr denn je gelebt
–
bloß dass es nicht immer draufsteht. Nehmen Sie die Ideale des Sozialstaats
oder der
Bewahrung
der Schöpfung oder der Würde des Menschen, das sind doch durchgreifende
Erfolge der Evangelien
in der heutigen Welt.“
In der Tat wirkt es trotz des Verlustes der kirchlichen Frömmigkeit auf die beschriebene Weise so, dass eine christliche Haltung stärker geworden ist, nur eben ohne Institutionalisierung und politische Macht. So scheint es, dass die Institutionen, die den christlichen Glauben dogmatisch und autoritär verkünden, überflüssig werden, was gewisse ihrer Vertreter dann eben besonders ärgert. So passt es dann, dass gewisse Akteure sich dann ganz auf die Rettung der institutionellen Aspekte, also des „Abendlandes“, der Verbindung von Staat und Kirche und der traditionellen Ordnung der Familie einschwören, so als läge darin die Essenz des Christentums.
So droht also in der Tat keine Umerziehung von
Kretschmanns Seite, sondern was hier stattfindet, ist vielmehr das Ergebnis und
die Bestätigung der Zurückdrängung der gewaltsamen Umerziehung in den Zeiten
kirchlicher Macht.
Was also stattfindet, ist lediglich das Ergebnis einer
evolutiv gewonnenen Veränderung, die von einem großen Bevölkerungsteil längst
ohne Zwang angeeignet wurde (verschiedene sexuelle Orientierungen und
Lebensformen zu akzeptieren), die in der Schulerziehung weitergegeben wird.
Eine Umerziehung, wie sie von den Bildungsplangegnern beschworen wird, wäre,
wenn die traditionelle Familie mit Zwang zurückgedrängt würde. Da dies nicht
stattfindet würde sie für einen großen Bevölkerungsteil auch weiterhin
maßgebend bleiben, wenn sie sich so sehr bewährt hat, wie Birgit Kelle meint.
Da brauchen die Anhänger der Demo-für-alle-Bewegung sich also keine Sorgen
machen, da in einem solchen evolutionären Vorgang das Bewährte bewahrt bleibt,
auch wenn es nicht als das Normative propagiert wird.
Wenn man in dem
Niederschlag der moralischen und mentalitätsbezogenen (Weiter-)Entwicklungen in
der
Erziehung und Gesetzgebung z. B. in Form von Diskriminierungsverboten, was
von den „Libertären“ auch als massive Freiheitseinschränkung gesehen wird, eine
„Umerziehung“ im Sinne totalitärer Regime sehen wollte, dann träfe dies auf
jede Art weltanschaulicher Formung der öffentlichen Moral zu.
Insofern ist es zu
begrüßen, dass die reaktionäre Seite jetzt auch aktiv daran gehindert wird mit
ihren gewohnten Diskriminierungen fortzufahren und für ihre Indoktrinationen
von der Gesellschaft unterstützt zu werden. Ansonsten steht es ihnen frei oder
sollte ihnen jedenfalls meiner Meinung nach freistehen, sich untereinander und
möglichst nur unter erwachsenen Personen etwas von natürlichen Ordnungen zu
erzählen und nach diesen zu leben.
Was heute stattfindet und was Kretschmann mit seinem
Verständnis des Evangeliums andeutet und was von den Reaktionären mit Argwohn
betrachtet wird, ist also nicht eine totalitäre Umerziehung, sondern eine
evolutionäre „Erziehung des
Menschengeschlechts“ im Sinne von
Lessing, der in dem Aufsatz dieses Namens auch davon sprach, dass die
(institutionalisierten) Religionen in der Menschheitsentwicklung eine
erzieherische Funktion haben und irgendwann entbehrlich werden, sobald der
Mensch für sich selbst verantwortlich ist. Unabhängig davon, ob man dem folgen
will, ist dies zumindest für die Einordnung der genannten Zusammenhänge
interessant.
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