Sonntag, 6. März 2016

Kretschmann und die Frage der Umerziehung

Winfried Kretschmann gab vor fast einem Jahr ein Interview in der ZEIT, in dem er einiges Bedenkenswerte  über sein Verständnis des Christentums und über die Absage an eine Umerziehung des Menschen sagte, was nun auch deshalb interessant ist, weil gewisse Gegner ja genau solches seiner Regierung im Zusammenhang mit den Bildungsplänen vorwerfen.


„Das Evangelium wird doch in unserer heutigen Zeit mehr denn je gelebt
– bloß dass es nicht immer draufsteht. Nehmen Sie die Ideale des Sozialstaats oder der
Bewahrung der Schöpfung oder der Würde des Menschen, das sind doch durchgreifende
Erfolge der Evangelien in der heutigen Welt.“

In der Tat wirkt es trotz des Verlustes der kirchlichen Frömmigkeit auf die beschriebene Weise so, dass eine christliche Haltung stärker geworden ist, nur eben ohne Institutionalisierung und politische Macht. So scheint es, dass die Institutionen, die den christlichen Glauben dogmatisch und autoritär verkünden, überflüssig werden, was gewisse ihrer Vertreter dann eben besonders ärgert. So passt es dann, dass gewisse Akteure sich dann ganz auf die Rettung der institutionellen Aspekte, also des „Abendlandes“, der Verbindung von Staat und Kirche und der traditionellen Ordnung der Familie einschwören, so als läge darin die Essenz des Christentums.
Dem entspricht es auch, dass die „libertären“ Konservativen um eigentümlich frei, die den Sozialstaat ablehnen und sich für ein traditionelles autoritäres Christentum einsetzen, sich wahrscheinlich wohl bewusst sind, dass ihr Minimalstaat nur lebensfähig wäre, wenn ein autoritäres Christentum teilweise an die Stelle des Staates tritt, also religiöse Bevormundung statt staatlicher. Dies, meine ich, steckt hinter der „eigentümlichen“ Verschränkung von extremer Staatsskepsis und reaktionärer Religiosität. Das Libertäre bis hin zu anarchoider Rhetorik scheint mir dort nur geradezu ein Vehikel zu sein, um den reaktionären Inhalt als etwas Subversives, Rebellisches zu verkaufen. Das zeigt aber, wie weit diese Richtung von der Vorstellung eines selbstverantwortlichen Menschen entfernt ist. Die „Bevormundung“ durch einen demokratisch kontrollierten Sozialstaat  nimmt sich gegen die religiöse Bevormundung durch eine kirchliche Hierarchie ziemlich gemäßigt aus.

So droht also in der Tat keine Umerziehung von Kretschmanns Seite, sondern was hier stattfindet, ist vielmehr das Ergebnis und die Bestätigung der Zurückdrängung der gewaltsamen Umerziehung in den Zeiten kirchlicher Macht.

Was also stattfindet, ist lediglich das Ergebnis einer evolutiv gewonnenen Veränderung, die von einem großen Bevölkerungsteil längst ohne Zwang angeeignet wurde (verschiedene sexuelle Orientierungen und Lebensformen zu akzeptieren), die in der Schulerziehung weitergegeben wird. Eine Umerziehung, wie sie von den Bildungsplangegnern beschworen wird, wäre, wenn die traditionelle Familie mit Zwang zurückgedrängt würde. Da dies nicht stattfindet würde sie für einen großen Bevölkerungsteil auch weiterhin maßgebend bleiben, wenn sie sich so sehr bewährt hat, wie Birgit Kelle meint. Da brauchen die Anhänger der Demo-für-alle-Bewegung sich also keine Sorgen machen, da in einem solchen evolutionären Vorgang das Bewährte bewahrt bleibt, auch wenn es nicht als das Normative propagiert wird.
  
Wenn man in dem Niederschlag der moralischen und mentalitätsbezogenen (Weiter-)Entwicklungen in der 
Erziehung und Gesetzgebung z. B. in Form von Diskriminierungsverboten, was von den „Libertären“ auch als massive Freiheitseinschränkung gesehen wird, eine „Umerziehung“ im Sinne totalitärer Regime sehen wollte, dann träfe dies auf jede Art weltanschaulicher Formung der öffentlichen Moral zu.

Insofern ist es zu begrüßen, dass die reaktionäre Seite jetzt auch aktiv daran gehindert wird mit ihren gewohnten Diskriminierungen fortzufahren und für ihre Indoktrinationen von der Gesellschaft unterstützt zu werden. Ansonsten steht es ihnen frei oder sollte ihnen jedenfalls meiner Meinung nach freistehen, sich untereinander und möglichst nur unter erwachsenen Personen etwas von natürlichen Ordnungen zu erzählen und nach diesen zu leben.

Was heute stattfindet und was Kretschmann mit seinem Verständnis des Evangeliums andeutet und was von den Reaktionären mit Argwohn betrachtet wird, ist also nicht eine totalitäre Umerziehung, sondern eine evolutionäre „Erziehung des Menschengeschlechts“  im Sinne von Lessing, der in dem Aufsatz dieses Namens auch davon sprach, dass die (institutionalisierten) Religionen in der Menschheitsentwicklung eine erzieherische Funktion haben und irgendwann entbehrlich werden, sobald der Mensch für sich selbst verantwortlich ist. Unabhängig davon, ob man dem folgen will, ist dies zumindest für die Einordnung der genannten Zusammenhänge interessant.

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